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Eine Kindheit auf dem Damm

Meine ersten 6 Jahre
[Ulrich Wohlgemuth]
Ab Juni 1951 hatte mein Vater eine Stelle als Förster auf dem Schönhauser Damm mit einem Monatsgehalt von 286 Mark Brutto. Der Umzug von Bitterfeld aus erfolgte in 10stündiger Treckerfahrt.
Knapp neun Monate später, am 9. März 1952, einem Sonntag, wurde ich in der Försterei geboren. Das erste Kind meiner Eltern, ein Sohn, und damit nach alter Sichtweise ein „Stammhalter“, also große Freude über solchen Nachwuchs.

 

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Die Hausgeburt war riskant; Dr. Burchhard aus Schönhausen kam über die unbefestigte Straße nicht durch; die 6 km zwischen Schönhausen und dem Damm wurde erst 1956 gebaut. Eine Gemeindeschwester gab es auch erst nach 1956.
Sie kam als Ehefrau unseres späteren Lehrers Hans Borowski aus Klietz auf den „Damm“.
Mein Vater war stolz darauf, dass ich im Taufbecken der Schönhauser Kirche getauft wurde; dem Becken, in welchem vor mehr als 130 Jahren der spätere erste deutsche Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck getauft worden ist.
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Die Freude meiner Eltern wich bald dem sorgevollen Bemühen, mich trotz eines Magenpförtnerkrampfes ausreichend zu ernähren.
Dabei halfen Ziegen, weil ich die Milch besser vertrug.
Wir wohnten bis Ende 1959 auf dem Schönhauser Damm. Trotzdem ist mir vieles aus der Zeit in guter Erinnerung. Manches habe ich erst später erfahren.
Von Horst Borowski, einem Sohn unseres ehemaligen Lehrers, habe ich 2020 verschiedene Unterlagen zur Schulentwicklung und zum Treck der Brigidauer auf den Schönhauser Damm bekommen. „Der letzte Treck der Brigidauer“ ist eine Abhandlung von Artur Bachmann, Berlin 2008, der diese Umsiedlung von Galiziendeutschen nach dem 2. Weltkrieg beschreibt.
Aus der Internet-Recherche ergibt sich:
Galizien ist eine historische Landschaft in der Westukraine (Ostgalizien) und in Südpolen (Westgalizien).
Das Territorium gelangte im Jahr 1772 im Rahmen der ersten Teilung Polens als Kronland Königreich Galizien und Lodomerien an das österreichische Haus Habsburg und wurde 1804 Bestandteil des Kaisertums Österreich. Von 1867 bis 1918 war es Kronland im österreichischen Teil Österreich-Ungarns.
Brigidau ist der deutsche Name eines galiziendeutschen Dorfes, seit 1947 Laniwka (Westukraine).
Die unabhängige Gemeinde entstand im Jahre 1783 mit 125 Wirtschaften. Sie wurde nach Josef Brigido von Bresowitz benannt. 1900 hatte der Ort 145 Häuser, 901 Einwohner, davon 890 deutscher Herkunft, hauptsächlich aus der Pfalz. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie kam Brigidau zu Polen. Infolge des Hitler-Stalin-Paktes gab es 1940 die erste Umsiedlung. Deutschstämmige Galizier aus dem sowjetischen Teil wurden ins Deutsche Reich eingebürgert. Anfang 1945 mussten die Brigidauer aus dem Kreis Krotoschin in den Südharz flüchten. Brigidauer, die später auf den Schönhauser Damm gingen, lebten vorwiegend im Mansfelder Land.

Da dort zu wenig Fläche für Neubauern existierte, entschieden sich viele für eine erneute Umsiedlung. Mit der Bodenreform nach 1945 wurden mehr als 2.000 ha des Bismarckschen Stammgutes enteignet und an „Neubauen“ vergeben. Sie erhielten das Land lastenfrei, aber nicht als volles Eigentum. Gab ein Neubauer die Landwirtschaft auf, fielen die Flächen in den Bodenreformfonds zurück. Auf dem Schönhauser Damm wurden 34 Familien aus Brigidau „Neubauern“. Damit befand sich hier die größte geschlossene Ansiedlung von Galiziendeutschen nach dem 2. Weltkrieg.
Eine dieser Familien waren Hubers, unsere unmittelbaren Nachbarn. Auf der anderen Seite lag die Gaststätte, in der ab und zu ein Wanderkino gastierte. Nachmittags gab es den Landfilm für Kinder; Fernsehen gab es nicht. Hubers kamen 1950. Meine Eltern hatten engen Kontakt zu Jakob (1922 - 1981) und Marianne Huber und ich zu den Söhnen Herbert und Ernst. Mit Herbert war ich in einer Schulklasse, Ernst war ein Jahr jünger. Beide Familien starteten fast bei Null.
Die zuvor Angekommenen hatten Brauchbares aus den leer stehenden Häusern „geborgen“. Vorteil des „ausgeschlachteten“ Forsthauses war allerdings, dass die Handschwengel-Pumpe innerhalb des Hauses stand. Alle anderen Gehöfte hatten die Pumpen draußen. Eine Büchse voll Wasser musste zuerst oben eingeschüttet werden. Dann brauchte es viele Pumpbewegungen, bis ein Eimer voll war. Die Nachbarn mussten ihre Pumpen für den Winter dick mit Stroh einwickeln.
Mein Geburtsdorf ist in verschiedener Hinsicht ein sehr besonderer Ort:
Der Schönhauser Damm (Schönhausen-Damm) ist einer von drei Dämmen (Wuster Damm, Schönhausen-Damm, Hohengöhren Damm). Die Dämme liegen im Elbe-Havel-Winkel am Übergang eines ehemaligen Moores („Der Trüben“) zu einer sandigen Hochfläche, die einst das östliche Ufer der Elbe bildete. Ab dem 16. Jahrhundert war das Gebiet Stammsitz der Familie von Bismarck.

 

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Von ihnen wurde als Vorwerk u.a. der Schönhauser Damm gegründet. Zur Entwässerung des Urstromtals der Elbe 1743 hat man große Gräben gezogen und in den Moorwiesen versucht Torf zu stechen. Übrig geblieben ist ein Torfloch, um
das sich Mythen rankten, weil sich aufsteigende Gasblasen und manche Schwelbrände zeigten.
Uns hat man erzählt, dass hier ein russischer Panzer versunken ist. 1899 gab es eine Schule und ein Forsthaus. 1872 eröffnete die Bahnlinie Berlin Hannover und 1901 wurde ein Bahnhof eingeweiht, der 2,5 km vom Ort entfernt lag und 1992 stillgelegt wurde. Mein Vater hat damals Besucher oft mit dem Motorrad abgeholt. An dieser Strecke hat er für mich eine Pappelallee gepflanzt.
Im 2. Weltkrieg gab es heftigen Kampfhandlungen in unmittelbarer Nähe das Dorfes.
Im höher gelegenen Wald war viel Nützliches und Gefährliches aus dem Krieg zu finden. Wir Kinder haben Skelette und Munition gefunden und mein Vater eine Rolle dicken Draht und ein Drehstromkabel.
Aus dem Draht hat er Nägel gefertigt um einen Zaun zu bauen; das Kabel brauchten wir nicht. Die Nachbarn haben es oft ausgeliehen. Er wollte es ihnen übereignen aber „Was man borgen kann muss man nicht selbst haben“ war die Antwort. Im Ort gab es große Hilfsbereitschaft.
Beim Geld hatte es aber Grenzen.
Für die Bauern gab es staatliche Vorgaben in Form von Anbaubescheiden und Viehhalteplänen.
Der staatliche Ankaufpreis für einen Zentner Weizen war z.B. 21 DM. Mengen, die über das Soll hinaus produziert wurden, galten als „freie Spitzen“ und wurden mit dem dreifachen Erfassungspreis vergütet. Von den Nachbarn konnten meine Eltern keinen Weizen für die Hühner kaufen.


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Sie hätten 63 DM pro Zentner, also ca. ein Fünftel des Monatsgehalts zahlen müssen. Der Bäcker Rudolf Wiedemann,
Rosels Bruder, hat öfter einen Sack Weizen aus Bitterfeld mitgebracht.

 

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1958 wurde ich in die Zubringerschule eingeschult. In der 1. Klasse waren wir 8 Schüler vom Hohengöhrner - und vom Schönhauser Damm. Unser Lehrer Hans Borowski hat im gleichen Raum die 6 Schüler aus der 2., die 7 aus der 3. und die 3 aus der 4. Klasse unterrichtet. Wie er das geregelt hat, ist mir ein Rätsel. Den Lehrer sowie den Unterricht fand ich prima und war daran interessiert, was den älteren Schülern erzählt wurde. Einmal musste ich nachsitzen, warum auch immer.
Meine Mutter hat zu Hause mit dem Mittagessen auf mich gewartet, hat mich gesucht und ist dann zur Schule gegangen.
Ich saß noch brav im Klassenraum. Herr Borowski war in seiner Wohnung oben drüber. Er hatte mich vergessen. Das erzählte meine Mutter; ich kann mich daran nicht erinnern. Ich habe auch kaum Erinnerung, dass ich Ernst in einem Erdverlies mit kleinen Atemrohr eingegraben haben soll.
Dann bat ich meine Mutter, ihn zu suchen. Das mit dem Hinweis, dass sie ihn auf keinen Fall finden wird. Ich weiß noch, wie panisch sie ihn dann mit bloßen Händen ausgegraben hat.

 

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Die 50er Jahre waren für meine Eltern schwierig, aber auch erfüllend. Meine Eltern hatten das Pferd Lotte mit Kutsche, einen jungen Hirsch, einen Bussard, die Schäferhunde Satan und Dina, Frischlinge, Hühner, Ziegen und mich.

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Als ich 1965 zu Besuch bei Hubers war, kann ich mich an Jakob Huber erinnern, der von mehrfachen Umsiedlungen seiner Familie berichtete und „geschworen“ hat, dass er der letzte Bauer sein wird; die Kinder sollten studieren und andere Berufe ergreifen. 1981 hat er sich das Leben genommen.
Fast alle Kinder der Erstansiedler legten das Abitur ab und gingen nicht in die Landwirtschaft. 
Herbert hat wie ich auch an der TH „Otto von Guericke“ in Magdeburg studiert.
Mit dem DDR-Gesetz über „die Rechte der Eigentümer von Grundstücken aus der Bodenreform“ (Modrow-Gesetz, März 1990) erhielten die ehemaligen Neubauern die vollen Eigentumsrechte an den übergebenen Grundstücken. Von den Besitzern wurden inzwischen die Böden verpachtet oder verkauft.
Auf dem Schönhauser Damm gibt es nun einen Holländer als einzigen Bauern.
Das Pfälzer Flair der Brigidauer ist weitgehend verloren gegangen. Ein Gedenkstein erinnert an die galiziendeutschen Ansiedler.
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Erinnerungen
Es gibt einiges, an das ich mich ohne Unterstützung von Fotos und späteren Erzählungen erinnern kann. Bei Hubers war es der Hofhund, der mit langer Kette an der riesigen Scheune befestigt war und als Türklingel wie Wache diente. Schön war deren Wohnküche, in der es immer etwas Leckeres zu essen gab. Besonders Leberwurst auf selbst gebackenem Brot war toll.
Fast traumatisch war für mich, mitzuerleben, als Hubers ein Schwein schlachteten. Die Kinder wurden in die Zubereitung
von Wurst einbezogen. Bis heute kann ich keine Blutwurst essen.
Die Toilette an Hubers Stall war ein Sitzbrett mit Holzdeckel , darunter die entnehmbare Kiste.
Unschön fand ich, wenn der Exkremente-Berg fast bis zur Öffnung reichte. Die Kiste wurde dann auf dem Feld entsorgt. Rosel hat von 1956 - 57 beim Straßenbau von Schönhausen zum Damm als Magazinerin gearbeitet.
Für sie war es eine schwierige Zeit; die Haushaltsführung und die Unterstützung meines Vaters, der kriegsversehrt war. Sie hatte den Spruch ihrer Mutter übernommen: „Nicht jammern und nicht klagen, sonst kann Dich keiner leiden“.
Von Juni 1956 bis April 1959 war mein Vater bei der Standortserkundung im Harz als Oberförster mit einem Bruttogehalt von Anfangs 665 und am Ende 850 Mark beschäftigt. In dieser Zeit ergab sich die Möglichkeit, eine Revierförsterei in Wernigerode zu übernehmen.
Mit dem Wechsel war eine Gehaltsreduzierung auf 650,- Mark verbunden aber auch eine Verbesserung unserer Lebenssituation.
Am 29. März 1959 wurde meine Schwester Martina im Krankenhaus in Stendal geboren.
Am 13. Januar 1969 zog unsere Familie nach Wernigerode auf den Voigtstieg um.